Apps gegen Stress?

Gesundheits-Apps liefern faszinierende Parameter: Schrittzahlen, Herzschlag, Schlafdauer … Stellt sich aber die Frage: Bestehen wir nur aus unseren Daten? „Angaben, auf drei Stellen hinter dem Komma, wecken in uns die Illusion, unser Körper, die Ernährung und Bewegung ließen sich zu hundert Prozent dokumentieren“, sagt Viviane Scherenberg, Dekanin für Prävention und Gesundheitsförderung an der „Apollon-Hochschule“ in Bremen.

Vor allem entsteht der Eindruck, unser Körper verhielte sich „nach mathematischen Regeln“. Dazu stellt Scherenberger fest: „Ganz extrem kann man das in der ‚Selbstvermesser‘-Szene beobachten.“ Da würden möglichst viele Daten über den eigenen Körper und Lebensstil erfasst – mit Blutdruck- und Pulsmessern, Sportuhren, Schrittzählern, Bewegungsanzeigern und vielen anderen Sensoren. So schärfen zwar die Menschen ihr Bewusstsein für das eigene Verhalten, aber „unser Körper ist nun einmal keine Maschine“, so die Dekanin. Und weiter:

„Die eigene gesunde Körperwahrnehmung kann dabei verloren gehen. Menschen, die ihre Körperfunktionen obsessiv überwachen, lückenlos aufzeichnen und so wie eine Maschinenleistung optimieren wollen, machen ihr persönliches Wohlergehen von ihren Tagesergebnissen abhängig. Dabei können wir uns auch bei tagesformabhängigen ‚schlechten‘ Daten sehr gut fühlen und auf dem richtigen Weg sein. Unsere Lebensqualität darf nicht verloren gehen! die Technik sollte nicht uns beherrschen, sondern ein Hilfsmittel bleiben.“

Gesundheits-Apps sind ein stark wachsender Markt: 2013 wurden bereits 97.000 Apps angeboten, die sich mit gesundheitlichen Fragen beschäftigen. Rund 1.000 solcher Kleinstprogramme kommen jeden Monat dazu – und die Gesundheitspolitik knüpft große Erwartungen an diese Apps, wie „Stiftung Warentest“ schreibt: „Sie sollen langfristig den Kostenanstieg im Gesundheits-sektor senken, die Kommunikation zwischen Arzt und Patienten erleichtern.“ So würden britische Hausärzte einzelne Apps bereits als „Gesundheitsmaßnahme“ verschreiben.

Doch die Tester warnen: „Hinter vielen Gesundheits-Apps stehen Pharma-konzerne“, was nicht immer der Name des jeweiligen Anbieters verrät. „Fehlt in diesen Fällen auch ein Impressum, hat der Nutzer keine Chance zu erfahren, wem er Angaben wie Gewicht, Geburtsdatum oder regelmäßig eingenommene Medikamente anvertraut“, so „Stiftung Warentest“. Es gäbe auch Apps, die alle Nutzerdaten unverschlüsselt übertragen – und Dritte könnten mit dem nötigen Know-how diese vertraulichen Daten leicht abfischen. Die passende Überschrift zum Text: „Gesundheits-Apps: Ich weiß, wie viel du wiegst“.

Ganz Deutschland spricht von diesen Anwendungen. Ganz Deutschland? Nein, ein kleiner Kreis von Menschen sah das 2013 ganz anders und übte sich in der Disziplin des „E-Fastens“: 29 Teilnehmer verpflichteten sich zu einer „digitalen Fastenwoche“. Ganz ohne Smartphone, Internet, Fernsehen und Radio. Gesundheit ohne Gesundheits-App? Als Ergebnis des Experimentes kam heraus, „dass sich jeder Teilnehmer wieder auf die Nutzung digitaler Medien freut, jedoch den Konsum in Zukunft einschränken oder kontrollierter und konsequenter [betreiben] möchte.“ Eine Teilnehmerin sagte: „Meinen TV-Konsum werde ich nun sicher überdenken. Viel zu viel Zeit habe ich damit fast komplett vergeudet.“

Digitale Ambivalenz: Die Frage löste beredtes Schweigen unter den Experten aus, die in Darmstadt 2012 auf dem Podium saßen. Keiner wollte Stellung nehmen, und im Publikum wurde leise gekichert. So merkwürdig war die Frage: „Warum stellen Unternehmen pro Abteilung nicht einen Mitarbeiter mehr ein? Könnten sie nicht so der krankmachenden Arbeitsverdichtung vorbeugen?“ Die Moderatorin nannte das einen „interessanten Impuls“ – und die Diskussion konnte sich wieder dem Segen durch Gesundheits-Apps zuwenden. Titel der Veranstaltung: „Corporate Health Congress“.

Warum war das eine ambivalente Erfahrung? Da hilft ein Blick in eine Untersuchung, die das „Fraunhofer Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation“ (IAO) veröffentlicht hat: Auf den globalisierten Märkten würden sich die Ressourcen verknappen, und die Unternehmen müssten mit „alternden Belegschaften innovative Produkte und Dienstleistungen“ schaffen, so das IAO. Außerdem steige die Zahl der Zivilisationskrankheiten, und die Möglichkeiten des öffentlichen Gesundheitswesens nehmen ab, diesem Trend gegenzusteuern.

„Auf diese Entwicklungen reagieren die Unternehmen vor allem mit Bestrebungen zur Rationalisierung“, schreibt das IAO, „Arbeitsverdichtung, einseitige Belastungen bei anspruchsvoller Wissensarbeit und unzureichende Regenerationsmöglichkeiten hemmen jedoch ein kreatives und produktives Arbeiten. Sie begünstigen zudem seelische Gesundheitsschäden.“

Da ist es … das Stichwort der „Arbeitsverdichtung“. Ein Phänomen, das auch stark auf das Konto der Digitalisierung geht. Ein Beispiel: Dank Computer müssen Redakteure heute ein komplettes Blatt machen – von den Inhalten bis zum Layout. Diese Arbeit ruhte früher auf verschiedenen Schultern, entsprechend steigt der Stresspegel in den Redaktionen. Ganz zu schweigen von E-Mails und der ständigen Erreichbarkeit, sowie dem Trend, Prozesse bis zur Schmerzgrenze zu optimieren.

Zwei Seiten einer Medaille: Erst werden die Menschen leichter krank, weil sie dem Druck einer digitalisierten Arbeitswelt nicht gewachsen sind. Denn ihre Arbeitsplätze werden immer stärker durch optimierte, „schlanke“ Prozesse beherrscht, die kurzfristig die Rentabilität der Unternehmen steigern (Lean Management). Das sollen dieselben Menschen aushalten, indem sie IT-Systeme des Betrieblichen Gesundheitsmanagements nutzen.

Je mehr Gesundheits-Apps zum Einsatz kommen, desto höher wird auch die Rentabilität der Unternehmen, die sie auf einen wachsenden Markt werfen. Ein volkswirtschaftliches Paradoxon: Erst wird Geld verdient, weil Menschen krank werden. Dann wird Geld verdient, weil Menschen gesund erhalten werden – mit prinzipiell derselben Technologie, die sie vorher in die Psychiatrie gebracht hat. Wäre es nicht einfacher, in jeder Abteilung einen Mitarbeiter mehr zu beschäftigen?

Betrachten wir am Ende die individuelle Ebene: „Weder Waagen, noch Apps, Abnehmprogramme oder Schrittzähler sind neue Wunderwaffen“, sagt Viviane Scherenberg. „Sie können immer nur so gut sein, wie der Wille des Nutzers stark ist. Es braucht sogenannte ‚teachable moments‘, also lernbereite Situationen, damit es funktionieren kann.“ Damit zeigt sich eine weitere Ambivalenz: Ohne einen Willen zur Veränderung bleiben die HighTech-Spielzeuge wirkungslos! Immer ist menschliches Bewusstsein gefragt, um mit Hilfe von Technik zum Ziel zu gelangen.

Das Gegenteil deutet Susanne Schäfer an, die in der ZEIT ironisch über ihre Erfahrungen mit Gesundheits-Apps schreibt: „Handy, ich will auf deinen Schoß!“ Sie berichtet: „Endlich musste ich mal nicht so furchtbar erwachsen sein und alles selbst geregelt bekommen, sondern konnte mich auf die mütterlichen Ratschläge meines Smartphones verlassen“, schreibt Schäfer. „Was soll so schlimm daran sein, mal wieder ein bisschen Kind zu sein?“ Die ZEIT-Autorin hat am Ende eine Vision, die alle bisherigen Apps in den Schatten stellt:

„Ich stelle mir vor, wie wir eines Tages Sensoren als Implantate im Körper tragen. Dann wüsste ich immer, wie es mir geht. In einer hektischen Arbeitsphase meldet der Sensor, dass die Konzentration an Stresshormonen in meinem Blut zu hoch ist. Daraufhin drängt mich die App, Feierabend zu machen. Später sitze ich in einer Bar und bekomme eine Nachricht von meiner Leber: ‚Ein Drink geht noch.‘“

Obwohl … diese Vision ist gar nicht so weit hergeholt: Schon 2004 bot in Barcelona der „Baja Beach Club“ Stammgästen an, subkutan einen Mikrochip zu implantieren – mit ihm ließen sich Getränke bezahlen! Ein Disco-Besuch, der richtig unter die Haut ging.

Dieser Beitrag ist die gekürzte Fassung des Kapitels „Apps gegen Stress“ aus dem Buch „Zum Frühstück gibt´s Apps“ / Lembke, Gerald; Leipner, Ingo / Springer Spektrum, Heidelberg, 2014.

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