Warum Deutschland ruhig Mittelmaß sein kann

„Eine Kindheit ohne Computer ist der beste Start ins digitale Zeitalter“, so die erste These, die Gerald Lembke und ich in unserem Buch formulieren. Titel: Die Lüge der digitalen Bildung: Warum unsere Kinder das Lernen verlernen.
Paradox? Eher ein bewusster Kontrapunkt zum Digital-Diskurs, der im Moment recht einseitig in der Öffentlichkeit läuft.

Die Lüge der digitalen Bildung
Ingo Leipner (Bildrechte beim Autor)

Fast einstimmig wird verkündet: Deutschland liegt bei der Digitalisierung der Schulen weit zurück, wir verpassen den Anschluss an globale Entwicklungen. Unterschwellig klingt mit, unser Wohlstand sei in Gefahr. So das fast einhellige Echo auf die „ICILS 2013“-Studie, die im November 2014 erschienen ist. Sie attestierte deutschen Achtklässlern nur Mittelmaß, wenn es um die Nutzung von Computern geht. Daher ist die Digitalisierung der Schulen mit Volldampf voranzutreiben, so die einhellige Forderung aus Politik und Wirtschaft.

Wir ziehen aber ganz andere Schlussfolgerungen aus dieser weltweiten Vergleichsstudie. Unsere sechste von zehn Thesen im Buch lautet:

Kinder müssen eine bestimmte kognitive Entwicklung durchlaufen haben, bevor sie sinnvoll mit Computern arbeiten. Das dürfte ab einem Alter von etwa 12-14 Jahren der Fall sein. Vorher kann die Konfrontation mit digitalen Medien mehr schaden als nutzen.

Dabei orientieren wir uns am Vier-Stufen-Modell der kognitiven Entwicklung, das der Entwicklungsbiologe Jean Piaget entwickelt hat.  Dieses Modell schildern wir ausführlich im Buch, und zwar als Grundlage unserer Überlegungen. Die 13- bis 14jährigen der „ICILS 2013“-Studie stehen am Anfang ihrer vierten „formal-operatorischen Phase“ (ab 12 Jahre). Bemerkenswert ist, dass in diesem Lebensabschnitt Kinder zum ersten Mal in der Lage sind, wirkliche Denkoperationen durchzuführen und ihre Urteile eher auf Logik als auf Wahrnehmung aufbauen. Ihr Abstraktionsvermögen nimmt langsam zu, es fällt ihnen aber noch schwer, sich Gedanken systematisch über hypothetische Situation zu machen.

In unseren Augen passt das zu den Ergebnissen, die Wissenschaftler über die Medienkompetenz unserer Kinder gewonnen haben: Bei der „ICILS 2013“-Studie landeten 29,2 Prozent der Schüler auf den basalen Kompetenzstufen I und II. Außerdem kamen 45,3 Prozent nicht über die Kompetenzstufe III hinaus. Fast die Hälfte aller Schüler ist nur mit Hilfestellung in der Lage, am Computer zu arbeiten. Nur 1,5 Prozent der Schüler erreichten die höchste Kompetenzstufe V. Alles kein Beinbruch, weil die Entwicklungsbiologie kaum etwas anderes erwarten lässt.

Wir sollten einsehen, dass das kindliche Gehirn eine Großbaustelle ist, bis zum Alter von 12 bis 14  Jahren – und weit darüber hinaus. Allmählich reifen kognitive Funktionen, allmählich werden die Kinder erwachsen und lernen, über sich und die Welt nachzudenken. Da nützt es nichts, Grundschülern ein Tablet in die Hand zu drücken. In der illusorischen Erwartung, sie würden so „früh“ Medienkompetenz aufbauen.

Auch die Neurobiologin Prof. Gertraud Teuchert-Noodt kommt zu dem Schluss, dass ab der „formal-operatorischen Phase“ weniger Gefahren für das kindliche Gehirn existieren:

„Dramatische Folgen dürften ausbleiben, wenn es ab dem  12. bis 14. Lebensjahr zu einer gemäßigten ersten Nutzung digitaler Medien kommt. Vorausgesetzt, die Jugendlichen haben bis dahin ihren kognitiven Rucksack gut gefüllt – mit reichen Erfahrungen aus unserer realen Umwelt.“ (Gastbeitrag in unserem Buch: „Zu Risiken und Chancen fragen Sie das Gehirn“).

Diese Aussage macht Mut: „Eine Kindheit ohne Computer ist der beste Start ins digitale Zeitalter“. So lautet unsere Kernthese. Und jetzt löst sich die scheinbare Paradoxie auf: Wir wollen Kinder nicht zu „Digital-Analphabeten“ machen, wie es Dr. Rohleder (BITKOM) befürchtet, falls nicht jeder Schüler ein Tablet im Ranzen hat. Im Gegenteil: Wir wollen, dass kritische, selbstbewusste und informierte Bürger im Internet unterwegs sind. Dazu ist es wichtig, Kinder im richtigen Lebensabschnitt mit digitalen Kompetenzen auszustatten.

Dazu gibt die Neurobiologie klare Antworten: Kinder brauchen eine starke Verwurzelung in der Realität, bevor sie sich in virtuelle Abenteuer stürzen. Ihr Gehirn entwickelt sich besser, wenn kein Tablet oder Smartphone reale Welterfahrung verhindert, etwa in der Zeit bis zur Pubertät. Denn ihre senso-motorische Erfahrungen sind die notwendige Grundlage, um Denkstrukturen aufzubauen, die bei einer gesunden Entwicklung im Gehirn entstehen müssen. Das meint die Neurobiologin Prof. Teuchert-Noodt mit  einem „kognitiven Rucksack“, der gut gefüllt sein soll – mit greifbaren Erfahrungen aus der realen Welt. Und genau solche Erlebnisse gibt es vor keinem Bildschirm, der leider immer mehr Lebenszeit der Kinder frisst.

Wir wünschen uns mehr Gelassenheit. Gönnen wir den Kindern doch ihre Kindheit – mit Toben, Purzeln, Malen und Singen. Tablets bringen nichts im Kindergarten. Statt Milliarden in IT-Infrastruktur zu investieren, sollten wir das Geld besser für Erzieherinnen ausgeben. Sie stehen an vorderster Front. Ihr Einfühlungsvermögen entscheidet, wie sich unserer Kinder entwickeln. Da kann es nicht  sein, dass wir sie beim Start in den Beruf mit rund 2.200 Euro brutto abspeisen. Trotz ihrer wichtigen Rolle im Bildungsprozess.

Unser Buch orientiert sich an der kognitiven Entwicklung der Kinder, entscheidend ist für uns die Erkenntnis: Wenn das Bildungssystem Kinder nicht zu früh mit Digitalität konfrontiert, sind sie ab der Pubertät eher in der Lage, vernünftig damit umzugehen. Eine Frage der Entwicklungsbiologie:  Jugendliche entfalten ihr volles kognitives Potenzial, wenn die Reifung des Gehirns in den ersten Lebensjahren ohne Störung verläuft.

Für junge Erwachsene sind digitale Medien ein Gewinn, sobald sie eine wirkliche Medienkompetenz aufbauen. Sie bedeutet aber viel mehr als die „Wisch- und Bedienkompetenz“ der „Digital Natives“, denn die Arbeit am Computer erfordert ein hohes Maß an Konzentrations- und Kritikfähigkeit. Um diese Themen sollte sich der Bildungsauftrag der Schulen im digitalen Zeitalter drehen.

Fazit: Da Bildschirme immer mehr Lebenszeit kleiner Kinder fressen, besteht die Gefahr, dass ihre Gehirnentwicklung leidet. Wahrscheinlich werden sie später nicht kompetent mit digitalen Medien umgehen. Wer sie aber in ihrer senso-motorischen Entwicklung fördert, legt den Grundstein für Konzentrations- und Kritikfähigkeit – nämlich genau für die Kompetenzen, die später im Umgang mit Digitalität gefragt sind. Diese zentralen Fähigkeiten diskutieren wir ebenfalls ausführlich in unserem Buch. Vor diesem Hintergrund plädieren wir für digitalfreie Oasen in Kindergärten und Grundschulen. Denn: Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans viel besser.

Der Autor dieses Betrages – Ingo Leipner – und Gerald Lembke und zeigen die dunkle Seite der Ökonomisierung und Digitalisierung von Bildung. Kinder und Jugendliche entwickeln ein bulimieartiges Lernverhalten: Dinge werden schnell und kontextfrei auswendig gelernt, in der Prüfung »ausgekotzt« – und sofort wieder vergessen. Die Autoren belegen diese und andere Gefahren für unser Bildungssystem. Eine eindringliche Warnung – und ein Plädoyer für eine durchdachte Nutzung digitaler Medien.

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