OTTO Group, Hamburg: Interview mit Thomas Voigt über die bewusste Veränderung einer Unternehmenskultur

Wie die Kultur einer Organisation bewusst verändert werden kann. Thomas Voigt, Head of Corporate Communications bei der Otto Group, Hamburg, zeigt, auf welche Weise Kultur bei der Otto Group gestaltet wird.

Thomas Voigt ist seit 2004 Head of Corporate Communications bei der weltweit tätigen Otto Group, Hamburg. Zuvor hat der 58-jährige die Medienbranche lange Jahre als Journalist beschrieben und später begleitet. Von 1989 bis 1997 war er Chefredakteur von W&V und HORIZONT. Von 1997 bis 2004 betreute er als Chefredakteur das Unternehmermagazin impulse und später das junge Wirtschaftsmagazin BIZZ. Der Handels- und Kommunikationsexperte wurde 2009 mit dem renommierten Preis „PR-Professional des Jahres“ des PR-Reports ausgezeichnet. Für einen frühen Beitrag über die kommenden Veränderungen in der Kommunikationslandschaft durch Social Media wurde er bereits 2010 von W&V zum „Zeichensetzer des Jahres“ gekürt.

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Thomas Voigt
Thomas Voigt (Foto: Otto Group)

Herr Voigt, die Otto Group versucht, ihre Kultur top down aktiv zu ändern, und hat hierbei den Begriff „Kulturwandel 4.0“ geprägt. Wie kam es dazu?

Die Gesellschafter haben gemeinschaftlich mit dem Vorstand vor zweieinhalb Jahren einen Kulturwandel angestoßen, da sie erkannt hatten, dass das Unternehmen radikal verändert werden muss. Hierfür haben sie den Begriff „Kulturwandel 4.0“ eingeführt. Dies geschah noch unter der Ägide des damaligen Vorstandsvorsitzenden Hans-Otto Schrader und unter tätiger Mithilfe des heutigen Vorstandsvorsitzenden Alexander Birken. Und Alexander Birken hat als neuer Vorstandsvorsitzender im Frühjahr 2017 den sogenannten „Otto Group Path“ formuliert, der ein gemeinsam erarbeitetes Leitbild, strategische Leitlinien, geschäftsfeldstrategische Überlegungen sowie eine umsatz- sowie ergebnisbezogene Zielsetzung enthält.

Was waren die Auslöser, dass die Otto Group ihre Kultur bewusst ändern möchte?

Ja, was waren die Anlässe für dieses Vorgehen? Da gab es mehrere. Erstens befand sich die Otto Group in Jahren bis 2016 in einer Phase der bewussten Konsolidierung und Restrukturierung, die uns nur wenig Wachstum und in einem Geschäftsjahr vom Ergebnis her sogar ein Minus bescherte. Zweitens haben wir gemerkt, dass uns diese Veränderungen bei der Wucht der Veränderungen zwar befähigt, am Markt mitzuhalten, es aber nicht ausreicht, um Maßstäbe zu setzen. Dazu braucht es die Kompetenz, als Otto Group eine größere Dynamik zu entfachen. Drittens ist eine dramatische Änderung des Kundenverhaltens festzustellen, der sowohl auf den technischen Fortschritt als auch auf das Annehmen dieses technischen Fortschritts durch unsere Kunden zurückzuführen ist. Dieses Annehmen führt wiederum zu Verhaltensänderungen, die wir antizipieren müssen, etwa wie unsere Kunden die Sortimente wahrnehmen, welches Serviceniveau sie erwarten oder auf welche Weise sie ihre Auswahl über bestimmte Informations- und Absatzkanäle treffen. Und viertens haben wir eine deutlich geänderte Wettbewerbsarena, die davon geprägt ist, dass wir sowohl die sogenannten Gafa‘s [Anmerkung des Interviewers: damit sind die großen US-amerikanischen Internetkonzerne gemeint: Google; Apple; Facebook; Amazon] haben – allen voran Amazon –, als auch sehr viele neue Geschäftsmodelle entstehen, die wiederum meistens mit der Digitalisierung zusammenhängen und den Wettbewerb auf vielfältige Weise verschärfen. Diese Veränderungen zusammen haben uns zu der Erkenntnis gebracht, nicht nur unsere Strategie und Prozesse, sondern unsere Kultur zu hinterfragen.

Soll damit auch die Veränderungsbereitschaft des Unternehmens – und damit seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – deutlich erhöht werden?

Ja, es ging und geht darum, unser Verhalten und die dahinter stehende Haltung infrage zu stellen und die Bereitschaft, sich zu verändern, radikal zu erhöhen.

Das klingt nach einem Bruch mit bisherigen Verhaltensweisen im Management. Nicht mehr allein die beschlossene Strategie des Vorstandes zählt, sondern es sollen bestimmte Werte im Unternehmen wirklich gelebt werden. Ist das eine Änderung an der Wurzel des Unternehmens?

Was die Wurzel ist, ist schwer zu sagen. Das hängt damit zusammen, was als Wurzel zu betrachten ist. Unternehmensorganisationen handeln erst einmal rational. Im Idealfall gibt es eine Gesamtstrategie, aus der dann Konzepte und Planungen abgeleitet werden, aus denen sich dann wiederum Maßnahmen ergeben. Das war das Denken und Handeln über viele Jahrzehnte. Und das hat immerhin dazu geführt, dass die Otto Group das letzte der alten, großen Versendhandelsunternehmen ist, das weltweit überhaupt überlebt hat. Die Otto Group ist somit das einzige Unternehmen in dieser Branche, die die Transformation zu einem Onlinehändler und Dienstleister in einem völlig anderen Markt überhaupt geschafft hat. Die Otto Group war mit diesem rationalen Vorgehen also über einen langen Zeitraum sehr erfolgreich.

Bei der Frage, auf welche Weise Veränderungsdynamiken am Markt entsprochen werden muss, ist den Gesellschaftern und dem Vorstand immer deutlicher geworden, dass die wesentliche Befähigung keine Kompetenz ist, die im Kopf entsteht, sondern dass es vielmehr um kulturelle Ebenen geht. Um kulturelle Ebenen, die mit der Frage der Haltung beginnen – und zwar bei jeder einzelnen Kollegin und jedem einzelnen Kollegen. Und die dann aus dieser Haltung heraus in die Frage münden, welche Art von Verhalten, Zusammenarbeitsweisen und Prozessen wir brauchen.

Rücken Sie mit einer solchen Einstellung nicht näher an den einzelnen Menschen mit seinen individuellen Bedürfnissen?

Sie sind mit diesen Fragen näher an den Wünschen und Bedürfnissen der Menschen dran, auch und gerade denen einer jüngerer Generationen von Kolleginnen und Kollegen mit ihrem anderen Mindset nach Freiraum, Selbstorganisation und Balance. Andererseits sind sie auch näher an den inneren Blockaden, die aus dem legitimen Bedürfnis nach Status und Sicherheit kommen. Damit erhöht sich die Chance nach intrinsischer Motivation, die sie ja für Veränderung dringend brauchen. Diese Erkenntnis führte letztlich zum Anstoß vom Kulturwandel 4.0.

Und dieser Kulturwandel ist top down verordnet…

Erst einmal muss solch ein Anstoß von ganz oben innerhalb einer Organisation kommen. Kultur kann man nicht verordnen, sondern nur vorleben. Also bedarf es des sichtbaren Voranschreitens des obersten Managements. Nach über zwei Jahren können wir feststellen, dass dadurch eine Öffnung bei unseren Kolleginnen und Kollegen stattgefunden hat.

Auch wenn Sie sagen, dass Kulturwandel nicht mal eben zu verordnen ist, so steht hinter einem solchem Anstoß doch eine rationale Überlegung. Nämlich jene, dass sich durch einen solchen Kulturwandel die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mehr für das Unternehmen engagieren sollen und sich dem unternehmerischen Gesamtziel verpflichteter fühlen.

Die rein wirtschaftliche und rationale Motivation ist, dass die Unternehmensgruppe durch eine größere Veränderungsgeschwindigkeit besser und effizienter in der Lage ist, am Markt zukunftsfähig zu sein. Dafür brauchen Sie eine klare Strategie und zielführende Konzepte. Emotional holen sie damit die Kolleginnen und Kollegen aber nicht ab. Das berühmte „Why“, das Warum ich als Kollegin oder Kollegin gerne in einem Unternehmen arbeite, hängt oft an emotionalen Komponenten, der guten Atmosphäre unter den Kolleginnen und Kollegen, wie mich Chefinnen und Chefs behandeln, welchen Freiraum ich habe – und: Dient dieses Unternehmen einem emotionalen Zweck, vertritt es Werte, die mit den meinen übereinstimmen? Bei der Otto Group mit gegenwärtig 123 Unternehmen, davon 20 – 30 große Einheiten, wird die Frage noch komplexer, weil diese Einheiten jeweils ihre eigene Kultur haben. Denken Sie etwa an den unterschiedlichen Umgang mit Hierarchie. Oder an das Selbstverständnis von Führung, das Selbstverständnis von Kolleginnen und Kollegen.

Aber führen Ihre Aussagen nicht unweigerlich zu der Frage, wie Kulturwandel gelingen kann?

Ja, natürlich. Und um das gleich vorneweg festzuhalten: Auch wir von der Otto Group wissen nicht, wie so etwas gelingen kann. Gleichwohl scheinen wir uns auf einen spannenden Weg gemacht zu haben, so dass wir uns vor Fragen anderer Unternehmen gar nicht mehr retten können.

Und was ist nun das Geheimnis Ihres Weges?
Der erste und wichtigste Schritt auf diesem Weg ist die Fähigkeit der Gesellschafter, sich selbst in Frage zu stellen – sich selbst und das, was man geschaffen hat. Das stellt sich ja gerade bei familiengeführten Unternehmen häufig als das größte Hemmnis heraus. Diese Fähigkeit besitzt der heutige Aufsichtsratsvorsitzende Dr. Michael Otto, der das Unternehmen viele Jahrzehnte lang groß gemacht und geprägt hat und der sich vor die Kolleginnen und Kollegen stellte und sagte: Ja, wir können stolz sein auf das, was wir erreicht haben. Aber wir müssen nun alles komplett neu und anders machen!

Diese Befreiung aus dem Erfahrungsgefängnis eröffnete in der Folge auch dem Vorstand, lieb gewonnene Gewohnheiten und Managementtugenden hinter sich zu lassen. Kein Zurückschauen und keine Selbstkasteiung. Das ist keine zielführende Diskussion. Sondern der Blick wurde in die Gegenwart und in die Zukunft gelenkt, so dass der Vorstand versprechen kann, dass der Kulturwandel bei ihm selbst beginnt. Bei der Art und Weise, wie er mit sich selbst umgeht, wie er künftig führt, wie er mit den Kolleginnen und Kollegen kommuniziert und zusammen arbeitet. Und vor allem: wie er das allen Mitarbeitern gegenüber sichtbar macht. Und dieses Versprechen ist eingelöst worden.

Und das reicht schon aus?

Nein, doch ist es ein sehr, sehr wichtiger erster Schritt. Der zweite ist ein radikaler Buttom-up-Ansatz. Der Vorstand hat postuliert, dass jede Kollegin und jeder Kollege mehr Freiraum bekommen soll, sich selbst zu prägen und sich in die gemeinsamen Themen einzubringen. Das begann mit Work-Streams zu fünf Themenräumen, die vom Vorstand zunächst vorgegeben wurden, in denen sich der Kulturwandel abspielen sollte. Diese Themenräume wurden persönlich von einzelnen Vorstandsmitgliedern geleitet, und in diese Räume konnte und kann sich jeder Mitarbeiter aktiv einbringen und mitgestalten. Der Zugang war völlig offen – über alle Firmen und Hierarchien hinweg. Jeder konnte sich einbringen, und alle Führungskräfte waren angehalten, ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern diesen Freiraum zu geben.

Das klingt nach einem Paradigmenwechsel…

Ja, das ist es auch: Vom Senden zum Empfangen. Vom Silodenken zum gemeinsam Handeln.

Und das ist sicherlich manchmal schwer gefallen – sowohl für das Top Management als auch die Mitarbeiter*innen.

Das ist für alle Beteiligten erstmal neu. Es war eine bewusste Irritation, die vom Top Management gestartet wurde und die zu viel Verunsicherung führte. Doch bedenken Sie auch, dass mit diesen Work-Streams ein Versprechen eingelöst wurde. Vorher hat man die Vorstandmitglieder meist nur entfernt und manchmal entrückt wahrgenommen. Plötzlich waren sie nahbar. Und die waren nahbar! Und sie wirkten durchaus auch sympathisch! Und sie sind nicht mit einer Attitüde reingegangen, alles besser zu wissen, sondern vor allem erstmal zuzuhören. Also das, was man „Kommunikation auf Augenhöhe“ nennt.

Diese Offenheit an den Tag zu legen – das ist schon gelungen! Nicht für alle Vorstände, nicht gleichzeitig und gleichmäßig, aber es ist insgesamt gelungen. Denn – und das dürfen wir nicht unterschätzen – für die Vorstände war das ein Abenteuer, auf das sie sich einlassen.

Diese Offenheit zeigte sich auch in dem Umgang mit den Resultaten, die aus den Work-Streams kamen. Die wurden immer offen kommuniziert, auch wenn sie manchen Führungskräften nicht gefielen. Das zeigte aber den Kolleginnen und Kollegen, dass sie gesehen werden und dass auf sie gehört wird. Und das über alle Hierarchiestufen hinweg. Denn Sie können sich vorstellen, dass auch das Middle Management erstmal verunsichert waren und sich fragte, wie sie mit den Veränderungen umgehen soll.

Und was hat es mit dem Duzen bei der Otto Group auf sich?

Das war ursprünglich gar nicht Teil des Kulturwandels, hat sich in den ersten Wochen aber schnell ergeben. Wie überall in Unternehmensgruppen gab es auch im Otto Group Reich Firmen, Bereiche und Abteilungen, in denen sich alle duzen. Gerade unter jungen Kolleginnen und Kollegen ist da ja gang und gäbe. Aber die Vorstände und viele Führungskräfte siezten sich zu der Zeit noch untereinander und ließen sich auch von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern siezen. Das führte in den gemischt besetzten Workstreams zu komischen Situationen. Die Vorstände und Führungskräfte waren jetzt näher, aber ließen sich mit „Sie“ anreden. Das wurde als Hürde wahrgenommen, auch von den Vorständen. In der Folge wurde diese Anregung im Vorstand diskutiert, und als er sich dazu positioniert hatte, gab es einen hausinternen Post, in dem der Vorstand allen Kolleginnen u Kolleginnen und Kollegen das „Du“ anbot. Niemand wurde dazu gezwungen, es war nur ein Angebot. Aber es hat in der Organisation natürlich „Zoom“ gemacht.

Und wird das gelebt?

Erstmal war das intern „Talk of the town“, wie Sie sich vorstellen können. Denn nun fand etwas ganz Wichtiges statt: Jeder Geschäftsführer, jeder Direktor und jeder Bereichs- und Abteilungsleiter fragte sich natürlich, ob er jetzt auch allen das „Du“ anbieten wollte oder innerlich musste. Und gefühlt jeder Kollege und jede Kollegin fragte sich innerlich, ob und von welchem Vorgesetzten, ob und von welchem Kollegen man sich fortan duzen lassen möchte, oder eben nicht. Es begann eine breite und aus meiner Sicht spannende Diskussion darüber, welche Beziehung wir eigentlich in der Otto Group zueinander haben. Die Vorstände merkten ganz schnell, dass die Leute sie auf dem Flur anguckten und sich fragten, ob sie sie nun wirklich duzen könnten. Der damalige Vorstandsvorsitzende Hans-Otto Schrader hat das mal sehr nett beschrieben: Er kam aus dem Aufzug und ein junger Kollege guckt mich an und fragt ihn: „Hey, Du bist Hans-Otto Schrader. Dich kann ich doch jetzt duzen!?“ Und er sagte: „Klar, das habe ich Dir ja angeboten.“ Und plötzlich sei er mit dem Kollegen in ein wohl sehr spannendes Gespräch gekommen, das es so vorher nicht gegeben habe. Das allein ist schon ein Erfolg!

Aber ändert sich wirklich etwas, wenn man sich duzt?

Der Vorstand hatte die These, dass man leichter vom Du zum Wir kommt als vom Sie zum Wir. Und in toto habe ich den Eindruck, dass das bei uns gelungen ist. Ich spüre an vielen Stellen im Unternehmen eine andere Offenheit und ein anderes, gemeinsames Selbstverständnis. Doch lassen Sie mich bitte noch einmal betonen: Das Duzen war kein Zwang! Auch bei uns gibt es noch Unternehmen, Bereiche oder Abteilungen, in denen sich weiterhin gesiezt wird. Und das ist völlig in Ordnung. Das Duzen hat ja einen wahren Medienhype ausgelöst und man konnte den Eindruck gewinnen, als sei das „Du“ der Kern unseres Kulturwandels. Und auch als andere Unternehmen mit Bezug auf uns das „Du“ von oben herab einführten, haben wir deutlich gemacht, dass man weder ein „Du“ noch einen Kulturwandel verordnen kann. Aus heutiger Sicht denke ich, dass das Duzen ein äußeres Zeichen für den inneren Wandel war, und nicht umgekehrt.

Und dann vollzog sich der Wechsel im Vorstand von Herrn Hans-Otto Schrader zu Herrn Alexander Birken…

Alexander Birken hat den Vorstandsvorsitz Anfang 2016 übernommen. Durch weitere Veränderungen und Neuzugänge im Vorstand kann man von einem Generationswechsel im Vorstand sprechen, hin zu den 40ern und Anfang 50ern. Damit verbunden war die logische Frage vieler Kolleginnen und Kollegen: Was habt ihr als neuer Vorstand vor? Wo will die Otto Group hin – auch beim Thema Kulturwandel? Bereits in den Workstreams des Kulturwandels wurde von den Kolleginnen und Kollegen immer wieder gefragt, wohin die Otto Group eigentlich will. Dieses „Hin-Wollen“ hat zwar auch mit strategischen und konzeptionellen Zielen zu tun, viel mehr aber mit Werten, mit Vision und Mission. Früher hätte der Vorstand gemeinsam mit ein paar wissenden Führungskräften und ein paar hochmögenden CI-Beratern das im stillen Kämmerlein herausgearbeitet – ist ja Chefsache! Auch hier zeigte sich der Kulturwandel: Das neue Leitbild wurde von den Kolleginnen und Kollegen erarbeitet. Ein kleines und junges Team wurde gebildet, das durch alle Konzernunternehmen der Otto Group zog und die Menschen fragte, was sie unter der Otto Group verstehen. Über 3.000 Leute beteiligten sich – das war schon ein gewisser Impact. Dieser Impact wurde verdichtet und ein Leitbild abgeleitet, welches im Frühjahr bekannt gegeben wurde: „Gemeinsam setzen wir Maßstäbe“. Der Vorstand hat zudem strategische Leitlinien, eine Geschäftsfeldstrategie und ehrgeizige Ziele entwickelt, aus denen dann der Otto Group Path entstanden ist.

Ist der Prozess, den Sie beschrieben haben, nicht eher ein Rahmen, in der sich etwas ungesteuert entwickelt, denn alles genau planen zu wollen?

Selbstverständlich und das ist ja die dahinter liegende Erkenntnis: Das Top-Management darf sich nicht im Klein-Klein bewegen oder sich in Micromanagement ergehen, sondern muss ein Leuchtfeuer entzünden, hinter dem sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entzünden lassen und sich im besten Fall selbst entzünden.

„Gemeinsam setzen wir Maßstäbe“. Was verbinden denn die Mitarbeiter*innen mit diesem Leitbild?

Ich spreche lieber von der english version „Together we push the limits“, weil sie eine noch stärkere Kraft zu besitzen scheint. Was die Kolleginnen und Kollegen damit verbinden, dürfte ja nach Konzerngesellschaft, Bereich oder Abteilung höchst verschieden sein – und das ist so gewollt. Wir aus dem Kommunikationsbereich haben uns intensiv dazu ausgetauscht und beziehen es zum einen auf unsere externen Stakeholder, um ihnen spannende Lösungen anzubieten. Sie zu begeistern – sowohl menschlich als auch technologisch. Des Weiteren beziehen wir es auf unsere interne Kommunikation. Wir wollen uns anders vernetzen und mit einer anderen Offenheit aufeinander zugehen. Und schließlich beziehen wir es auf unsere gesellschaftliche Verantwortung und möchten Lösungen für Mensch und Natur anbieten.

Und was mir noch wichtig ist zu sagen: Wir alle betrachten das, was wir hier kulturwandlerisch machen, nicht als Projekt, sondern als Prozess! Mit anderen Worten: Es gibt keinen Endpunkt in der Entwicklung.

Was hat sich denn durch den angestoßenen Wandel im Top Management geändert?

Es gibt eine deutlich andere Art des gemeinsamen Miteinanders. Verstanden sich die einzelnen Vorstände früher eher als Sachwalter ihrer Bereiche und Firmen, so gibt es nun ein sichtbares Einvernehmen dahingehend, dass es um die gemeinsame Führung einer Unternehmensgruppe geht. Doch der Kulturwandel und seine Bedeutung zeigt sich auch darin, dass sich der Vorstand einmal im Monat einen ganzen Tag nimmt, nur um über Fragen des Kulturwandels zu diskutieren. So haben die Work-Streams nun eine ganz andere Konkretion erreicht, als dass es noch vor zweieinhalb Jahren der Fall war. Und als äußeres Zeichen eines inneren Wandels ist der Vorstand in der internen Kommunikation nicht nur deutlich sichtbarer, sondern er hat sich oft auch vom Anzug getrennt. Auch das schafft Nähe.

Hat sich dadurch auch der Umgang des Vorstandes mit Unsicherheit geändert?

Das ist ja das Wesen von einem modernen Management: Genau zu überlegen, welche Art von Entscheidung wo zu treffen ist, um schnell agieren zu können, und wie kann das alles mit neuen KPIs controllt werden. Das betrifft dann natürlich das Top Management genauso wie die nachfolgenden Ebenen.

Das bedeutet dann doch aus, das Prinzip „Vertrauen zu meinen Mitarbeitern*innen“ weiter aufzubauen…

Der Kern einer jeden Kultur ist es, das gegenseitige Vertrauen zu mehren. Ganz im Sinne der berühmten Aussage, dass Vertrauen eins der wenigen Dinge in unserem Leben ist, das sich wie die Liebe mehrt, wenn man es schenkt und teilt. In der unternehmerischen Praxis geht e dann konkret um die Fähigkeit, Wissen und Verantwortung stärker zu teilen und gemischten Teams bis hin zum einzelnen Kollegen mehr Verantwortung zuzutrauen. Das schafft Synergien und schnellere Lösungen.

Doch dazu gehört doch Mut und Selbstvertrauen der Mitarbeiter*innen…

Ja, da haben Sie Recht. Das bedeutet, dass sich jeder die Frage stellen muss – und zwar über alle Ebenen hinweg – mit welchem Selbstverständnis und mit welchem Selbstvertrauen er oder sie an die Arbeit geht. Hier ist jeder Einzelne gefordert.

Und wie schaffen Sie das denn, genau dieses zu erreichen?

Wir müssen jedem einzelnen Freiräume geben und Fehler zugestehen. Hierdurch ergeben sich für jeden Einzelnen von uns Lernprozesse. Denk- und Verhaltensmuster können sich ändern, die Leute entwickeln Mut und das Selbstvertrauen. Und dann kommt es in der Summe zu einer nachhaltigen Veränderung im Unternehmen.

Hat dieser Kulturwandel Auswirkungen auf das Recruiting?

Ich denke, dass wir beim Recruiting schon immer gut waren. Doch ja, die kulturelle Veränderung hat unsere Attraktivität auch als Arbeitgeber erhöht. Die Auflösung starren und hierarchieorientierten Denkens und auch die räumliche Öffnung weg von festen Arbeitsplätzen hin zu Co-Working-Places oder Home-Office hat die Schere zwischen gutem Recruiting und der unternehmensinternen Realität zugehen lassen. Ich habe heute kein Problem damit, junge Menschen zu locken, was die Otto Group für ein tolles Familienunternehmen ist. Was für eine Vitalität und Freiheit in diesem Unternehmen stecken. Hier stimmen Fürsorge und Innovationskraft.

Nun noch einige Fragen zu Ihnen als Privatperson mit der Bitte, spontan zu antworten. Ich nenne Ihnen nachfolgend drei Begriffspaare, die Pole zueinander darstellen. Welche Bedeutung haben diese Pole für Ihr Leben? Sie können jeweils 100% verteilen:

Planung: 50%Spontaneität: 50%
Rationalität: 30%Intuition: 70%
Sicherheit: 50%Mut: 50%

Wenn Sie zur Ruhe kommen möchten – wie sieht Ihr Ruheraum aus und wo befindet er sich?

Mit einem spannenden Job und drei kleinen Kindern zuhause ist mein Ruheraum in mir, gestärkt durch Tai Chi und Meditation.

Wenn Sie in Ihrem Leben etwas verändern könnten und die Garantie hätten, damit Erfolg zu haben – was würden Sie dann anders machen?

Ich hätte wie so oft angedacht tatsächlich ein Start-up gegründet und es an die Börse gebracht.

Welche Geschichte über sich möchten Sie in 30 Jahren Ihren Enkeln erzählen können?

Ich bin 15 Jahre Chefredakteur gewesen und fast die gleiche Zeit an führender Position in der Unternehmenskommunikation. In dieser Zeit habe ich sehr spannende und weise Persönlichkeiten aus der nationalen und internationalen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft kennenlernen und mit ihnen sprechen dürfen. Ein bewegtes und bewegendes Leben.

Welche Farbe hat für Sie persönlich das aktuelle Jahr?

Leider Grau – ein eher dunkles Grau. Aber das hat ausschließlich persönliche Gründe.

Auf einer Skala von 1 bis 10: Wie fanden Sie die Schokolade?

Verkostet wurde eine Schokolade von Dr. A.: Herbe Vollmilchschokolade mit Himbeeren und Karamelcrunch.

Sie erinnerte mich an Erdbeermund im tiefen Grund, köstlich!

Herr Voigt, vielen Dank für das Gespräch!

Das Gespräch führte Prof. Dr. Bernd Ahrendt.
Kontakt: www.berndahrendt.de

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Der Beitrag erschien zuerst auf www.wirtschafts-thurm.de

Beitragsbild © oliavlasenko – fotolia

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