Deutsche Bahn AG, Reisendeninformation: Interview mit Gita Gottfried über agile Organisation

Wie die Einführung einer agilen Organisation innerhalb eines Konzerns gelingen kann. Gita Gottfried, IT-Plattform and Services Reisendeninformation (PZ 2), berichtet, worauf zu achten ist.

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Gita Gottfried ist – nach Stationen bei der Daimler AG, der TWT GmbH sowie der DB Vertrieb GmbH – seit 07/2012 im Bereich Deutsche Bahn AG, Reisendeninformation als Senior Beraterin Reisendeninformation, Projektleiterin Fahrzeugprojekte, Referentin RIS Projekte, Produkt- und Auftragssteuerung tätig. Sie studierte an der Philipps-Universität Marburg Betriebswirtschaftslehre und ist seit 11/2017 zertifiziert als Senior Projektmanagerin (GPM) – IPMA Level B.
Die Freizeit verbringt Frau Gottfried gerne sowohl mit sportlichen Aktivitäten (Reiten, Joggen, Wassersport und Tanzen) als auch mit Lesen. Ferner geht sie gerne ins Kino.

Gita Gottfried
GITA GOTTFRIED
(QUELLE: ALLA SCHWABAUER)

Frau Gottfried, was verstehen Sie in Ihrer Organisationseinheit unter dem Begriff „Agilität“?

Die Themen Haltung und Mindset, ein passender Rahmen mit flexiblen Strukturen und die Anwendung geeigneter Methoden machen unsere agile Organisationseinheit aus. Letztlich geht es darum, dass wir als Organisationseinheit „Reisendeninformation“ in der Lage sind, uns passend zur Situation zu verändern.

Geht es somit darum, dass Ihre Organisationseinheit flexibel auf Änderungen reagieren kann?

Ja genau. Wie viele andere Unternehmen und Organisationen in der heutigen Welt stehen wir vor der Herausforderung, auf sich schnell ändernde Kundenbedürfnisse bei zunehmender Digitalisierung reagieren zu müssen. Technologische Trends ändern sich schnell und qualifizierte Fachkräfte sind nur begrenzt verfügbar. Kurz: Wir bewegen uns in einem hochdynamischen, komplexen Umfeld. Die Fähigkeit flexibel auf Änderungen zu reagieren ist wichtig für das erfolgreiche Erreichen unserer Ziele.

Angenommen, unsere Einheit bekommt ein großes neues Thema rein, das zu keinem der bestehenden Teams passt, dann sind wir organisatorisch so aufgestellt, dass sich für dieses Thema ein neues Team bilden kann, ohne dass wir eine organisatorische Maßnahme benötigen.

Und wie schaffen Sie das?

Wir haben nur drei große Themenblöcke im Organigramm ausgewiesen. Die Teamstrukturen unterhalb der Themenblöcke sind nicht im Organigramm enthalten. Die Teams widmen sich immer aktuellen Themen, die sie bearbeiten. Und wenn ein Thema fertig bearbeitet worden ist, wendet sich das Team einem neuen Thema zu. Ein eingespieltes Team bleibt dabei möglichst dauerhaft bestehen. Gleichzeitig besteht die Möglichkeit, dass sich zu neuen Themen neue Teams bilden und auch wieder auflösen können, nachdem das Thema fertiggestellt ist. Insbesondere bei Themen mit Projektcharakter, also einem klaren Start und Ende, ist diese Flexibilität sehr vorteilhaft.

Auch denken wir in den Teams nicht in dauerhaft feststehenden Stellen, sondern in Rollen. Dabei gibt es in jedem Team mehrere Rollen. Diese unterscheiden sich je nach Team. In einem Umsetzungsteam, das Software entwickelt und dabei die agile Methode „Scrum“ anwendet, gibt es beispielsweise immer die Rollen „Entwickler“, „Product-Owner“ und „Scrum-Master“. In einem Unterstützungsteam, das sich z.B. um das übergreifende Controlling kümmert, gibt es andere Rollen, einen „Product-Owner“ hat aber auch dieses Team. Generell gilt: jedes Team umfasst alle Rollen, die für die erfolgreiche Realisierung seiner Ziele erforderlich sind.

Immer wenn eine Rolle frei oder neu geschaffen wird, erfolgt eine entsprechende Kommunikation. Mitarbeiter, die an der Rolle interessiert sind, können auf das jeweilige Team zugehen und sich bewerben. Wenn wir eine zu besetzende Rolle nicht intern besetzen können, haben wir die Möglichkeit, auch externe Berater bzw. Mitarbeiter einzusetzen, wodurch sich unser Freiraum grundsätzlich weiter erhöht.

Insofern unterstützen unsere Strukturen die Veränderungsfähigkeit in unserer Organisationseinheit.

Sie arbeiten also in einem agilen Raum, der sich innerhalb eines Konzerns befindet, der nicht agil aufgestellt ist. Wie sind denn das Verständnis und die Akzeptanz der übergeordneten Stellen im Konzern für Ihre Einheit?

Was wir gespiegelt bekommen, ist, dass wir in der Wahrnehmung des Konzerns ein sehr professioneller und fortschrittlicher Bereich sind. Wir liefern gute Ergebnisse ab, was sicherlich auch dazu beiträgt, dass die Akzeptanz vorhanden ist. Und wir versuchen, durch Maßnahmen wie etwa Open-House-Runden, während der wir tiefe Einblicke in unseren Ansatz geben und Gespräche mit Kolleginnen und Kollegen führen, das Verständnis für dieses andere Denken und Vorgehen zu erhöhen. Auch sind wir nicht der einzige Bereich der DB, der in diese Richtung unterwegs ist. Ich könnte Ihnen viele Beispiele geben. Als großer Bereich transformiert beispielsweise aktuell die Konzerntochter DB Systel mit mehreren tausend Mitarbeitern gesamthaft in eine agile Organisation.

Was ist denn noch anders im agilen Mindset Ihrer Organisationseinheit?

Wir agieren auf Augenhöhe und leben Führung im Verständnis von Coaching nicht im Geben von Anweisungen. Bei uns übernehmen die Teams und Mitarbeiter eine starke Position. Das bedeutet konkret, dass sie Verantwortung übernehmen für ihre Themen, eigeninitiativ handeln und Entscheidungen treffen. Ziele gelten erst dann als vereinbart, wenn sich das jeweilige Team zu ihnen committet hat. Ziele werden also eben nicht von oben vorgegeben, sondern miteinander verhandelt.

Wie kann ich mir das konkret vorstellen?

Das Verhandeln der Ziele? Angenommen ein mögliches Ziel steht im Raum: wenn das Team sagt, dass das Ziel im vorgegebenen Zeitraum nicht zu erreichen ist, wird es seine Zustimmung nicht geben. Es kann dann z.B. über eine Anpassung des Scopes, eine Repriorisierung anderer Ziele oder den Einsatz zusätzlicher Ressourcen verhandelt werden. Erst wenn der Konflikt aufgelöst ist, d.h. das Ziel vom Team als erreichbar angesehen wird, und beide Seiten mit dem Inhalt zufrieden sind, wird es fixiert. Auf diese Weise sind die Ziele sowohl herausfordernd als auch realistisch.

Das klingt nach einem aktiven Konfliktmanagement.

Ja, das ist es auch. Konflikte werden schneller erkannt und besprochen. Der gesamte Zielprozess wird viel transparenter. Das, was vereinbart wurde, kann dadurch in einem höheren Maße zuverlässig in Bezug auf Zeit und Qualität geliefert werden.

Kommen wir zur Historie Ihrer Organisationeinheit. Seit wann leben Sie denn Agilität?

Anfang 2018 sind wir in eine agile Organisation mit entsprechenden Strukturen übergegangen, sind jetzt also im zweiten Jahr. Allerdings haben viele der Teams bereits davor überwiegend oder stellenweise agile Methoden angewendet.

Wie kam es dazu?

Es gab den Linienbereich „Reisendeninformation“ sowie den Projektbereich gleichen Namens. Das Projekt hatte den Auftrag, das Konzept der Reisendeninformation neu zu denken. Anfang 2016 wurde beide Bereiche zusammengelegt, ohne systematische Integration. Auch waren beide Bereiche in den Jahren zuvor bei gleichbleibenden Strukturen gewachsen.

Vor diesem Hintergrund bestand die Aufgabe, passende Strukturen für die neue Situation zu schaffen. Die neue Organisation sollte die erfolgreiche Zielerreichung unterstützen. Sowohl die hohe Fachexpertise und Zuverlässigkeit des ehemaligen Linienbereichs als auch die Schnelligkeit und Innovationskraft des ehemaligen Projekts sollten erhalten bleiben und gestärkt werden. Wie vorhin schon gesagt, standen wir bei der erfolgreichen Zielerreichung vor den gleichen Herausforderungen wie viele andere Organisationen und Unternehmen: Kundenbedürfnisse ändern sich in kurzen Zeitabständen, zunehmende Digitalisierung, hohe Komplexität der Themen, viele neue technologische Trends und begrenzt verfügbare Fachkräfte.

Zu Beginn der Gespräche für die neue Organisation stand dabei der agile Gedanke gar nicht im Vordergrund. Das änderte sich aber, nachdem wir uns in diesem Zusammenhang viele verschiedene Beispiele erfolgreicher Einheiten und Unternehmen angeschaut haben, die vor ähnlichen Herausforderungen wie wir standen und diese erfolgreich gelöst hatten – etwa Blinkist, Buurtzorg oder Spotify. Warum sind die so erfolgreich und was machen die anders? Uns war klar, dass wir deren Ansätze nicht eins zu eins übernehmen konnten bzw. diese nicht eins zu eins zu uns passten, doch Kernelemente davon schon. Und so entstand die Idee von dem, was wir heute bei uns als agile Organisation bezeichnen.

Und welche Kernelemente haben Sie übernommen?

Ein agiles Mindset, das stückweise Ersetzen klassischer Hierarchie durch passende Strukturen, mehr Verantwortung bei den Teams und Mitarbeitern sowie das Anwenden passgenauer Methoden zogen sich als Kernelemente durch alle Ansätze. Nun sind wir ja auch in der VUCA-World unterwegs, in der klassische Strukturen nicht immer weiterhelfen, um an den verschiedensten Stellen der Organisation gute und schnelle Entscheidungen treffen zu können. So lag die Erkenntnis nahe, dass auch jene Menschen, die sich mit den Themen beschäftigen und eine entsprechende Expertise haben, auch in der Lage sein müssten, entsprechende Entscheidungen treffen zu können.

Gleichzeitig war klar, dass ein Aufbrechen der klassischen Hierarchie allein nicht ausreichen würde. Hierarchie musste durch Strukturen ersetzt werden, die sowohl jenen Verantwortungsraum mit hoher Selbständigkeit ermöglichen als auch zum Konzern und seinen Geschäftsfeldern passfähig sind.

Nun gibt es die agile Organisationseinheit über ein Jahr. Was läuft denn schon gut?

2018 haben wir als Organisationseinheit unsere Ziele gesamthaft gut erreicht. Wir haben viele Teams, die sich auf die Ziele committen und sich Methoden erarbeitet haben, die zu ihnen passen. Und was ferner feststellbar ist, ist, dass die Teams und Mitarbeiter zunehmend Eigeninitiative ergreifen. Noch nicht jedes Team in derselben Intensität, doch es wird immer mehr.

Aus meiner Sicht funktioniert es in unserer Organisationseinheit auch deshalb so gut, weil wir eine Organisation geschaffen haben, die diesen Change ermöglicht. Jedes Team, jeder Mensch kann sich in seiner/ihrer Geschwindigkeit entwickeln. Die Menschen werden mitgenommen, sie waren bei Einführung der agilen Organisation ja noch dieselben, die sich erstmal an das Neue gewöhnen mussten.

Jedem Team seine Geschwindigkeit zu ermöglichen – das ist ein wichtiger Erfolgsfaktor.

Doch steckt hinter diesem Freiraum nicht auch eine größerer Verantwortungsraum für jeden Einzelnen, den sie/er nun auszufüllen hat? Kann das nicht auch Angst erzeugen?

Theoretisch schon, doch geben wir jedem Team die Zeit, sich zu entwickeln. So sind wir dieses Jahr etwa den Schritt gegangen, dass jedes Team seine fachlichen und zusammenarbeitsbezogenen Teamziele im ersten Schritt selbst formuliert, im zweiten Schritt mit der übergeordneten Ebene abstimmt und dann für alle transparent macht. Dieses schrittweise Vorgehen nimmt vielen Menschen die Angst vor der Veränderung.

Klar gibt es Menschen, die sich in einer agilen Organisation wie unserer nicht wohlfühlen. Das Gleiche gilt aber genauso für klassische Organisationen. Letztlich geht doch immer auch um die Frage, welche Menschen bei den Themen helfen können, und darum, dass beides gut zusammenpasst – Organisation und die Menschen. Was wir für unsere Einheit feststellen können, ist, dass wir in den letzten Monaten Menschen für uns gewinnen konnten, die ohne unsere offene Kultur, flexible Strukturen und hohe Freiheitsgrade nicht gekommen wären.

Was zeichnet Ihrer Meinung nach jene Menschen aus, die bei Ihnen arbeiten?

Die Menschen, die bei uns arbeiten, wollen Verantwortung übernehmen und Gestaltungsfreiräume haben. Sie sind offen für Neues.

Und müssen diese Menschen auch kommunikativ stark sein?

Auf alle Fälle. Es ist es unabdingbar, dass die Kolleginnen und Kollegen wertschätzend miteinander kommunizieren können.

Gehen Sie hierbei dann nicht von einem sehr positiven Menschenbild aus? Der Mensch als Mit-Denkender und Mit-Arbeiter?

Ja, genau. Es geht ja darum als Organisationseinheit erfolgreich zu sein, unsere Ziele im Sinne der konzerninternen und -externen Kunden sowie natürlich der Endkunden zu erfüllen. Dabei agieren wir in einer komplexen Welt. Das Arbeiten in Netzwerkstrukturen und die Fähigkeit, Entscheidungen schnell und fundiert zu treffen, helfen uns dabei. Viele der Entscheidungen können und müssen dezentral vorgenommen werden – von den Menschen die Experten in den jeweiligen Themen sind. Doch natürlich nicht alle. Es gibt auch Entscheidungen, die gemeinsam mit dem Management vorzunehmen sind – das ist z.B. der Fall, wenn mehrere Teams oder weitere Organisationen betroffen sind.

Im Alltag kann es für ein Team schon eine Herausforderung sein, zu prüfen, was es selbst entscheiden kann, und wo es besser weitere Instanzen einbindet. Auch hier lernen wir immer noch dazu. Wichtig für das erfolgreiche Agieren ist in meinen Augen neben bestehenden Prozessen, Fachexpertise und Engagement eines Teams auch die Bereitschaft, Dinge auszuprobieren und je nach Situation zu verändern – die Zielrichtung immer im Blick. Eine gute Kommunikation ist dabei notwendiger Bestandteil.

Jetzt haben wir schon ganz viel von Rollen gesprochen. Wie definieren Sie denn den Begriff „Rolle“?

Eine Rolle ist ein definierter Verantwortungsumfang, der in Bezug zu einer Aufgabe steht. In unserer Organisationseinheit haben wir einige Schlüsselrollen, von denen ich fünf kurz benennen möchte:

  1. Leiter der Organisationseinheit „Reisendeninformation“. Ihm zugeordnet sind unsere drei Themenblöcke. Er verantwortet die Umsetzung aller Themen.
  2. Lead-Product-Owner, verantwortet das Gesamtergebnis seines Themenblocks. Er bildet die Klammer über alle Teams in diesem und ist Entscheider über umzusetzende Anforderungen sowie die Priorisierung im Themenblock.
  3. Product-Owner, verantwortet die Umsetzung des definierten Themas gemeinsam mit dem Team. Er ist Entscheider über umzusetzende Anforderungen und die Priorisierung innerhalb eines Teams (auf Basis des Stakeholderfeedbacks). Beide – Lead-Product-Owner als auch Product-Owner – übernehmen letztlich die fachliche Führung.
  4. Agile Führungskraft, verantwortet die Entwicklung der Personale, und den Ressourceneinsatz. Sie führt disziplinarisch. Die Trennung von fachlicher und disziplinarischer Führung öffnet mehr Raum für Entwicklungsgespräche mit dem Mitarbeiter ohne dass fachliche Themen vernachlässigt werden.
  5. Coach, fördert Zusammenarbeit der Teams/innerhalb der Teams für eine bessere Zielerreichung. Er vermittelt zudem Methodenwissen. Ein Coach kann sowohl nur einem Team zugeordnet als auch für mehrere Teams zuständig sein. Auf alle Fälle hat jedes Team Zugriff auf einen Coach.

Ich bin aktuell z.B. in der Rolle Product-Owner unterwegs.

Einerseits klingt das gar nicht so viel anders als in einer klassischen Hierarchie, doch irgendetwas muss ja anders sein.

Sehen Sie, es ist ja nicht so, dass es in unserer Organisation keine hierarchischen Elemente mehr gibt. Allerdings haben wir die klassische Hierarchie ein Stück weit durch für uns passgenaue Strukturen ersetzt und leben Verantwortung auf mehrere Rollen verteilt. Wichtig sind auch die offene Kommunikation sowie eine gute Fehlerkultur – und dass permanente Veränderungen/ Verbesserungen normaler Bestandteil des Alltags sind.

Ein Beispiel: Als wir 2018 gestartet sind, haben wir uns überlegt, dass wir je ein themenblock- und teamübergreifendes Steuerungsgremium für strategische bzw. für operative Themen benötigen. Diese Gremien heißen bei uns „Board“. Bald nach ihrer Bildung haben wir jedoch festgestellt, dass das operative Board in der definierten Form keinen zusätzlichen Mehrwert geliefert hat, da bereits viele unterschiedliche Meetingformate auf der operativen Ebene existierten, die in Summe viel effektiver waren. Also haben wir das operative Board wieder aufgelöst.

Für uns ist es inzwischen selbstverständlich, Neues auszuprobieren, z.B. neue Meetingformate oder Methoden, von denen wir uns einen Mehrwert erhoffen. Das kann auf Teamebene stattfinden, aber auch übergreifend. Was gut funktioniert, behalten wir bei, was nicht funktioniert, verändern wir oder lassen es ganz sein.

Und wer schlägt ein solches Meetingformat vor?

Das kann jeder tun. Jemand erkennt, dass er einen bestimmten Bedarf hat – das kann innerhalb eines Teams sein oder übergreifend. Entsprechend dem Bedarf und der Idee diesem nachzukommen, initiiert der Bedarfsträger oder die Bedarfsträgerin ein entsprechendes Meeting oder eine Methode. Bei neuen querschnittlichen Themen können sich so auch neue Strukturelemente bilden, z.B. eine neue Gilde oder Community. Eine Gilde ist dabei ein Interessenzusammenschluss mit Governanceauftrag. Als Beispiel möchte ich die Test-Gilde nennen, die teamübergreifende Standards und Tools zu diesem Thema abstimmt. Eine Community hingegen ist ein freiwilliger Interessenzusammenschluss ohne Governanceauftrag. Ein gutes Beispiel hierfür ist etwa eine Gruppe an Menschen, die sich zusammenfindet, um etwa ein Sommerfest zu organisieren.

Das alles klingt nach sehr viel persönlichen Freiraum.

Ich persönlich nehme das tatsächlich auch so wahr und könnte mir das auch für den Großteil meiner Kolleginnen und Kollegen vorstellen.

Und mit einem größeren Freiraum steigt dann ja auch die Verantwortung.

Unbedingt. Die Teams sind verantwortlich für das Erreichen ihrer Ziele und entscheiden, wie sie sie erfüllen. Es ist niemand da, der sagt, dass ich A, B, C und D zu tun habe, um die eine Aufgabe zu erledigen. Es liegt bei den Teams und jedem Einzelnen das „Wie“, also wie etwas zu tun ist, zu füllen. Eigeninitiative spielt also eine wichtige Rolle.

Das „Was“, also was zu erreichen ist, wird demgegenüber mit den Teamzielen gemeinsam definiert. Aber auch hier trägt das Team und jeder Einzelne Verantwortung, da die Ziele ja nicht einfach von „oben“ vorgegeben werden sondern ein gemeinsamer Commitment-Prozess stattfindet.

Das Prinzip, das dahintersteckt, könnte man dann als Hol-Schuld in dem Sinne bezeichnen, dass jeder sich selbständig um seine Angelegenheiten kümmern muss.

Ja, so kann man das auch sehen. Allerdings stehen die Menschen dabei nicht isoliert für sich. Wir haben eine ausgeprägte Vernetzung untereinander, die auch notwendig ist. Eigenverantwortliches Handeln ist in unserer Organisation explizit gewünscht!

Mein Lead-Product-Owner hat es einmal wie folgt ausgedrückt: „Wenn es ein Thema gibt, bei dem ich helfen kann, komm‘ zu mir, sag‘ mir Bescheid und wir reden drüber!“

Und das führt tatsächlich zu einem höheren Engagement der Menschen?

Wir haben viele sehr engagierte Menschen. Im letzten Jahr konnten wir unsere Ziele als Organisationseinheit gesamthaft sehr gut erreichen. Auch die Mitarbeiterzufriedenheit, die im Herbst letzten Jahres erhoben wurde, war insgesamt sehr ausgeprägt – sie war signifikant höher als Jahre 2016 und deutlich über dem Konzerndurchschnitt.

Wenn ich das bisher Gesagte einmal auf den Punkt bringen darf, habe ich den Eindruck, dass wir uns sehr stark über die Aspekte von „Stabilität“ und „Flexibilität“ in einer Organisation unterhalten. Auch Ihre Organisationseinheit hat viel Struktur, wenngleich es keine rein hierarchische ist. Sind das alles stabilisierende Faktoren, die Ihre Einheit erst dazu befähigen, flexibel sein zu können?

Ja. Es ist keine starre Struktur, die wir in der Ablauforganisation haben, sondern eine, die Veränderungen und Freiräume für mein Team und mich als Individuum gibt. Die Freiräume ermöglichen wiederum die eigenverantwortliche, erfolgreiche Bewältigung der Aufgaben. Für mich ist es eine stärkende Struktur.

Wenn ich es genau überlege, sind bei uns Stabilität und Flexibilität keine Gegenpole zueinander, sondern vielmehr zwei Seiten einer Medaille: Wir haben mit unseren drei Themenblöcken in der Aufbauorganisation einen stabilen Rahmen, der Sicherheit gibt und die Passfähigkeit in den Konzern stützt. Die flexiblen Strukturen innerhalb der Themenblöcke ermöglichen gleichzeitig permanente Veränderungen und Weiterentwicklung der Abläufe in der Organisationseinheit.

Beides in Kombination schafft einen großen Mehrwert für die Organisationseinheit. Sehen Sie: Die Situationen und das Umfeld ändern sich ja stetig – die Welt steht nicht, sondern dreht sich kontinuierlich weiter. Im Kern geht es also darum, ein gesundes Gleichgewicht zwischen Stabilität und Flexibilität zu finden, das zu den Themen und zur jeweiligen Situation passt, aber auch zu den Menschen. Ein ständiger Change, der Stabilität und Flexibilität ineinander verzahnt.

Aber verstehen Sie: Der Change gehört einfach dazu, er ist ein selbstverständlicher Bestandteil. Und der große Vorteil einer agilen Organisation ist aus meiner Sicht, dass sie genau diesen Change ermöglicht, da ja auch alle Menschen involviert sind.

Wie sieht das Entgeltsystem dann in Ihrer agilen Organisation aus. Werden die Menschen gemäß ihren Rollen bezahlt?

Bei uns gibt es ganz normale Stellenbeschreibungen. Nicht jede Rolle ist gleich groß. Auch kann eine Stellenbeschreibung mehrere Rollen umfassen. Die Bewertung der Stellen erfolgt nach Konzernprozess.

Nun noch einige Fragen zu Ihnen als Privatperson mit der Bitte, spontan zu antworten. Ich nenne Ihnen nachfolgend drei Begriffspaare, die Pole zueinander darstellen. Welche Bedeutung haben diese Pole für Ihr Leben? Sie können jeweils 100% verteilen:

Planung: 50% Spontaneität: 50%
Rationalität: 50% Intuition: 50%
Sicherheit: 30% Mut: 70%

Wenn Sie zur Ruhe kommen möchten – wie sieht Ihr Ruheraum aus und wo befindet er sich?

Zu Hause auf dem Sofa.

Wenn Sie in Ihrem Leben etwas verändern könnten und die Garantie hätten, damit Erfolg zu haben – was würden Sie dann anders machen?

Ich wäre mehr im sonnigen Süden unterwegs.

Welche Geschichte über sich möchten Sie in 50 Jahren Ihren Enkeln erzählen können?

Viele lustige Geschichten, die ich selbst erlebt habe und mit denen ich mich auch ein wenig auf die Schippe nehmen kann.

Welche Farbe hat für Sie persönlich das aktuelle Jahr?

Bordeauxrot mit ein paar Schattierungen blau.

Auf einer Skala von 1 bis 10: Wie fanden Sie die Schokolade?

Verkostet wurde eine Schokolade von Dr. A.: Zarte Vollmilchschokolade mit Haselnüssen und Karamelcrunch.

11 von 10 Punkten – ich muss gestehen nachdem ich das erste Stück gegessen hatte, hat es nicht lange gedauert und die Tafel war weg 😉

Frau Gottfried, vielen Dank für das Gespräch!

Das Gespräch führte Prof. Dr. Bernd Ahrendt.
Kontakt: www.berndahrendt.de

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